Forschung

1996 gründet Cornelia Helfferich SoFFI F., das Sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut zu Geschlechterfragen. Sie leitete es bis zu ihrem Tod Ende 2021. SoFFI F. im Forschungs- und Innovationsverbund FIVE e.V. an der Evangelischen Hochschule Freiburg ist ein Drittmittel-Forschungsinstitut. Drei Forschungsschwerpunkte entwickelten sich über die Jahre:

Forschung zu privaten Lebensformen, Partnerbeziehungen und Sexualität

Für die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung wird seit 1998 ein Zyklus von Bevölkerungsbefragungen durchgeführt, die standardisiert die reproduktive Biografie und in qualitativ biografischen Interviews den Lebensverlauf unter der Perspektive der privaten Lebensformen erhoben haben. Befragt wurden zuerst Frauen (frauen leben1), später Männer (männer leben 1), dann türkische und osteuropäische Migrantinnen (frauen leben 2 und männer leben 2).

2012 startete eine Wiederholungsbefragung bei Frauen (frauen leben 3). Diese noch laufende Studie wurde in mehreren Phasen erweitert. Aktuell liegt ein Datensatz von n=19.022 Frauen im Rahmen standardisierter Telefoninterviews und n=136 im Rahmen qualitativ-biographischer Interviews face-to-face aus 12 Bundesländern Deutschlands vor.

Das Material der Studien erfuhr in der Publikation „Familie und Geschlecht“ eine theoretische Einbettung in ein Konzept der Biografieforschung. Der Stichprobenumfang und die sich daraus ergebenden Auswertungsmöglichkeiten erlauben es, auch für spezifische soziale Gruppen (z.B. Migrantinnen aus spezifischen Herkunftsregionen, kinderlose Sozialleistungsbezieherinnen, Frauen, die in der Kindheit Gewalt durch ihre Eltern erfahren haben) Aussagen über reproduktive Ereignisse und für seltene Ereignisse (z.B. Teenagerschwangerschaften) Aussagen über biografische Voraussetzungen und Folgen zu treffen.

Ein wichtiges Thema war und ist u.a. der Schutz vor Schwangerschaften und die Interaktion in Partnerschaften.

Sonderauswertungen gibt es zu einzelnen Bundesländern (wird fortgesetzt), zur „Bedeutung von Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Lebenslauf“ und zu „Geringe Einkommen, Sozialleistungsbezug und Verhütung“.

Im Verbund mit 6 Hochschulen wird seit Herbst 2020 im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) die Studie „ELSA. Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer – Angebote der Beratung und Versorgung“ erstellt (Link: http://www.soffi-f.de/elsa-fobebe). Gestützt auf die internationale Forschung, die besagt, dass nicht der Abbruch einer Schwangerschaft als solcher, sondern die ungewollt eingetretene Schwangerschaft unter schwierigen Lebensumständen Belastungen erzeugt. So werden Belastungen bei gewollt und ungewollt eingetretenen und bei ausgetragenen und abgebrochenen ungewollten Schwangerschaften verglichen.

Forschung zu sexueller Interaktion, Gewalt in Paarbeziehungen und sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend

„Seit Beginn der 2000er Jahre entwickelte sich der Forschungsschwerpunkt zu Gewalt in Paarbeziehungen in enger Zusammenarbeit mit Barbara Kavemann. Es entstand ein Fundus von neun Studien. Erstmalig wurden in qualitativ-rekonstruktiven Auswertungsverfahren Muster identifiziert und Typologien des Unterstützungsbedarfs aus der subjektiven Perspektive betroffener Frauen hergeleitet.

Mehrere Untersuchungen gaben der Politik angesichts einer veränderten Rechtslage durch das Inkrafttreten des Gewaltschutzgesetzes Orientierung bei der notwendigen Weiterentwicklung des Unterstützungssystems. So die 2004 erstellte „Untersuchung zum Beratungsangebot nach polizeilichem Platzverweis bei häuslicher Gewalt“ und die 2011 publizierte „Bestandsaufnahme zur Situation der Frauenhäuser, der Fachberatungsstellen und anderer Unterstützungsangebote für gewaltbetroffene Frauen und deren Kinder“.  In diesen Studien wurde erstmals eine bundesweite Übersicht über Schutz- und Beratungsangebote erstellt und weiterer Bedarf identifiziert.“ (aus: Beiträge zur Forschung zu Geschlechterbeziehungen, Gewalt und privaten Lebensformen, Einleitung S. 4)

Zwischen 2004 und 2015 forschten Cornelia Helfferich und das Team von SoFFI F. auch zum politisch hoch umstrittenen Thema Prostitution und Menschenhandel von Frauen – unter anderem für das Bundeskriminalamt. Die fundierten wissenschaftlichen Erkenntnisse aus den Studien fanden ihren Niederschlag in der Ausbildung der Polizei, bei den Anlaufstellen für betroffene Frauen und auch in der Gesetzgebung.

„Ab 2011 wurde der Schwerpunkt der Forschung um das Thema sexuelle Gewalt in Kindheit und Jugend erweitert. Der Fokus lag nun nicht mehr auf Frauen allein, sondern auf den Betroffenen jeden Geschlechts. Es entstanden 16 überwiegend qualitative Studien, die die Diskussion maßgeblich voranbrachten, indem sie die Perspektive von Betroffenen ins Zentrum stellten.“ (aus: Beiträge zur Forschung zu Geschlechterbeziehungen, Gewalt und privaten Lebensformen, Einleitung S. 4)

In den beiden vom BMBF geförderten Forschungsprojekten SP:PAS (Schutzprozesse: Partizipative Ansätze im sozialen Umfeld, Teilvorhaben: Kontexte von sexuellen Übergriffen im sozialen Umfeld vulnerabler Jugendlicher: Dynamik verstehen, Schutzprozesse verstärken) und PRÄVIK (Prävention von Reviktimisierung bei sexuell missbrauchten Jugendlichen in Fremdunterbringung) wird die Gestaltung der intimen Beziehungen und der sexuellen Interaktionen unter Jugendlichen daraufhin untersucht, welche Strategien in welchen Situationen und Beziehungen verfolgt werden, um Risiken zu minimieren, Grenzen zu setzen und Handlungsfähigkeit zu sichern.

Entwicklung qualitativer Forschungsmethoden

Die vergleichsweise großen Stichproben qualitativ-biographischer Interviews (n=136: Projekt „frauen leben 3“) führten zu einer Professionalisierung der Interviewerinnen mit einer Entwicklung von Schulungen zur Interviewdurchführung und Leitfadenentwicklung.  Daraus entstand das Forschungsmanual „Qualität qualitativer Daten“ (Helfferich 2011, 2. Auflage), das als Standardwerk für die qualitative Interviewführung gilt.

Für die Auswertungen wurde eine Methode entwickelt, die hermeneutisch mit einer hohen Textaufmerksamkeit vorgeht und fallbezogen zentrale Motive rekonstruiert, zugleich aber mit vertretbaren und reflektierten „Abkürzungsstrategien“ den Aufwand in Grenzen hält. Inzwischen wurde das Verfahren vor allem mit forschungspraktischen Implikationen weiterentwickelt.

Für Fragestellungen über die Gestaltung von Lebensformen und für Rekonstruktionen von Interaktionen erwies sich eine Modifikation der Agency-Analyse als Auswertungsstrategie, die ursprünglich im Kontext der Konversationsanalyse entwickelt worden war, als ein geeignetes, weil hoch aussagekräftiges Verfahren. Sie konzentriert die Auswertungsaufmerksamkeit des integrierten Basisverfahrens auf Selbst- und Fremdzuschreibungen von Handlungsmächtigkeit. Hierzu wurden ein Herausgeberband und zahlreiche Einzelpublikationen veröffentlicht. (Bethmann, Helfferich, Hoffmann, Niermann: Agency. Qualitative Rekonstruktionen und gesellschaftstheoretische Bezüge von Handlungsmächtigkeit. 2012)

Für verschiedene Projekte wurden auch ungewöhnliche qualitative Verfahren genutzt und neu- bzw. weiterentwickelt. Dazu gehörte z.B. die Kombination von „subjektiven Landkarten“ mit Gruppendiskussionen (Erhebung räumlicher Strukturen städtischer Räume im Kontext der Alltagsorganisation bei wohnungslosen Frauen) oder mit Einzelinterviews (Erhebung des sozialen Umfeldes, Projekt PRÄVIK) und eine Modifikation der Struktur-Lege-Technik zur Visualisierung subjektiver Theorien (Projekt PRÄVIK).

 

Weiterentwicklung dieser Methode

Dr. Diana Cichecki und Prof. Dr. Heiko Löwenstein wollen die Methodenansätze von Cornelia Helfferich über eine Plattform weiterentwickeln:

Cornelia “Nena” Helfferich hat die Entwicklung qualitativer Forschungsmethodik mit Kreativität, Leidenschaft und Akribie geprägt. Ihr Name steht – nicht nur wegen des gleichnamigen Standardwerks – Pate für “Die Qualität qualitativer Daten” und er steht für konsequente Gegenstandsangemessenheit.

Um das zu gewährleisten, stellte sie die Passung von Fragestellung und Methode stets über methodischen Dogmatismus. Wenn wir darauf schauen, was sie hinterlässt – nicht nur mit ihren Arbeiten, sondern auch mit Aufmerksamkeit für die zahlreichen Forschenden, die sie in deren Methodenverständnis beeinflusst hat – dann lässt sich das daher nicht als eine “Schule” qualitativer Sozialforschung begreifen. Wer in der Tradition Nenas forscht, bricht mit Tradition und Konvention. Sie oder er wird mit großer Offenheit nach “sinnvollen” Lösungen für empirische Problemstellungen streben.

 Die resultierende Vielfalt möchten wir versammeln und aufeinander beziehen, um im vielstimmigen Dialog miteinander Nenas Ideen und Ansätze fortzuführen. Dieser Verteiler dient als erste gemeinsame Plattform dazu: https://www.listserv.dfn.de/sympa/info/methodenentwicklung_nena_helfferich